Die gefühlte Fluchtgefahr – Einsperren ohne Grund
Da es sich bei dem Vollzug von Untersuchungshaft um den denkbar schwersten Eingriff in Grundrechte handelt, reichen bloße Möglichkeiten oder Vermutungen für ihre Anordnung nicht aus. Vielmehr sind konkrete Anhaltspunkte für eine bevorstehende Flucht erforderlich, um eine so schwerwiegende Entscheidung zu rechtfertigen.
Hierzu hat die Rechtsprechung im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche Kriterien aufgestellt. Auf deren Basis wird von Haftrichtern seit Jahrzehnten Untersuchungshaft angeordnet. Dabei beträgt die durchschnittliche Prüfungsdauer ca. 20 Minuten, in denen sie sich in die Sache einarbeiten, die Beschuldigten anhören, eine Entscheidung treffen und diese zu Papier bringen müssen. Es liegt auf der Hand, dass eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Prüfungstiefe in den wenigsten Fällen erreicht wird. Schon bislang waren daher viele richterliche Entscheidungen in Haftsachen fragwürdig, um nicht zu sagen: Sie waren unvertretbar und damit rechtswidrig.
Doch es kommt noch schlimmer: Eine wissenschaftliche Untersuchung von Rechtsanwältin Dr. Lara Wolf aus Berlin hat ergeben, dass diejenigen Kriterien, die Haftentscheidungen bislang üblicherweise zugrunde gelegt wurden, nahezu alle ungeeignet sind. Dabei hat sie über einen Zeitraum von mehreren Jahren sämtliche Fälle analysiert, in denen ein Oberlandesgericht Fluchtgefahr angenommen, den Haftbefehl aber aus anderen Gründen außer Vollzug gesetzt hat. Das Ergebnis ist ernüchternd, oder besser: schockierend. 92 % der Fluchtprognosen haben sich im Rückblick als falsch herausgestellt (selbst Würfeln hätte deutlich bessere Ergebnisse gebracht). Ferner haben sich 42 % der Inhaftierungen rückwirkend als unverhältnismäßig erwiesen, weil am Ende gar keine zu vollstreckende Freiheitsstrafe verhängt worden ist. Auch haben sich die meisten von der Rechtsprechung verwendeten Bewertungskriterien als vollkommen ungeeignet erwiesen. Schließlich hat die Untersuchung ergeben, dass die Fluchtwahrscheinlichkeit insgesamt extrem niedrig ist und dass in der Praxis in aller Regel nicht etwa deshalb inhaftiert wird, weil es konkrete Anhaltspunkte für eine Flucht gibt, sondern schlicht deshalb, weil der Beschuldigte fliehen könnte, was definitiv rechtswidrig ist.
Vor dem Hintergrund, dass einerseits die Prognosesicherheit nur bei 8 % liegt und andererseits aus verfassungsrechtlichen Gründen der Vollzug von Untersuchungshaft nur dann zulässig ist, wenn er für die Sicherung des Verfahrens als letztes Mittel unerlässlich ist, sollte man denken, dass Haftbeschwerden in Zukunft in vielen Fällen ein Selbstläufer sein müssten. Leider ist bisher ein Umdenken der Strafjustiz in der Praxis aber nicht zu erkennen. Möglicherweise bedarf es erst wieder einer Verfassungsbeschwerde, um die Untersuchungshaft auf neue und rechtmäßige Füße zu stellen. Ich bleibe an dem Thema dran!